Montag, 20. November 2023

IN UNSERER NACHBARSCHAFT

IN UNSERER NACHBARSCHAFT

Der eine oder die andere hat vielleicht schon meine Affinität für diese kleinen, 10 x 10 cm großen Messingplaketten mitbekommen, die in unsere Bürgersteige eingelassen werden. 

Ich nutze meine Spaziergänge, um zu versuchen, alle Stolpersteine in Hamburg zu fotografieren (wenn ich anderswo unterwegs bin, schaue ich auch dort, ob es welche gibt).

Stolpersteine, ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig - es gibt sie seit 1995, seit 2000 mit offizieller Billigung in inzwischen 1248 Kommunen in Deutschland, in 21 Ländern Europas, inzwischen über 70.000.

In Hamburg wurde der erste Stolperstein 2002 verlegt, inzwischen sind es 6465 in der ganzen Stadt. 

So richtig bekannt ist immer noch nicht, was diese Dinger eigentlich sollen, wie ich aus Bemerkungen und Fragen erfahren konnte.

"Ach, das sind die Dinger, wo die Juden gewohnt haben” - fast richtig.

“Was muss man denn getan haben, um so einen Stolperstein zu bekommen?"  - Naja, ansich nicht viel, genau genommen nichts.

Ein Stolperstein liegt vor dem letzten Wohnort eines Menschen, der unter der NS-Herrschaft verfolgt, entrechtet, verhaftet, ermordet, in den Selbstmord getrieben oder aus dem Land vertrieben wurde. 

Natürlich sind darunter viele ehemalige jüdische Mitbewohner, aber auch ganz andere: Widerstandskämpfer, ehemalige Politiker und Gewerkschafter, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Zwangsarbeiter, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, sogenannte “Gewohnheitsverbrecher” und auch sogenannte “Asoziale”, also Obdachlose, Bettler und auch Alkoholiker, das reichte, um in ein KZ eingewiesen zu werden. 

Traditionell sind die Stolpersteine in innerstädtischen Stadtteilen wesentlich stärker vertreten als in den “Randbezirken”, einfach weil die Neustadt und Eimsbüttel traditionelle jüdische Wohngegenden waren und weil auch die ehemaligen Arbeiterviertel eher im innerstädtischen Bereich angesiedelt waren.  

Einige Patienten und Angestellte haben schon angemerkt, daß hier in der Nähe auch ganz viele liegen (die mal wieder geputzt werden müssten - das wäre doch ne prima Aufgabe im Rahmen der Arbeitstherapie, oder?).

Genau genommen sind es zu diesem Zeitpunkt 38 Steine, die in der Straße Kurzer Kamp vor Hausnummer 6 liegen.

Demnächst werden es 40 sein, und ansich ist das korrekterweise schon nicht mehr Hummelsbüttel, sondern der Nachbarstadtteil Fuhlsbüttel - die Straße Kurzer Kamp ist quasi die Grenze. 

Trotzdem, weil sich die Straße in unmittelbarer Nähe zum STZ befindet, will ich kurz etwas über die Geschichte des Gebäudes und seiner ehemaligen Bewohner erzählen.


KURZER KAMP 6  


Dort befand sich seit 1931 das von der Vaterstädtischen Stiftung betriebene Mendelson-Israel Stift. 

Die Vaterstädtische Stiftung war von jüdischen und christlichen Hamburger Kaufleuten gegründet worden, mit dem Ziel, ältere Mitbürger, vornehmlich Witwen, mit preiswertem Wohnraum zu versorgen. 

Das Stift am Kurzen Kamp entstand durch die testamentarischen Zuwendungen der jüdischen Kaufleute Theodor Mendelson und des Ehepaars Dr. Philipp und Henriette Israel und hatte 25 Ferienwohnungen, die für ältere Damen, egal welcher Konfession, bestimmt waren.

Ab 1938 wurden alle Stiftungen arisiert, d.h. die jüdischen Mitglieder wurden als Mitglieder ausgeschlossen und ab Februar 1939 verloren die jüdischen Bewohner der meisten Stifte ihre Wohnberechtigung.

Die 13 Wohnstifte in Hamburg, die für jüdische Bürger reserviert gewesen waren, wurden komplett für Deutsche reserviert und insgesamt nur drei Stiftsgebäude verblieben in jüdischer Verwaltung.

Das Wohlwill-Stift in der Kielortallee, das Brunn-Stift in der Frickestraße und das Haus im Kurzen Kamp, wo die Wohnungen bald doppelt oder dreifach belegt waren, denn ab 1939 durfte jeder Vermieter einem jüdischen Bewohner in seinem Haus ohne Angabe von Gründen die Wohnung kündigen; jüdische Grundbesitzer wurden nach und nach gezwungen, ihre Immobilien zu verkaufen, so daß nach und nach bis auf wenige Ausnahmen die jüdischen Bürger gezwungen waren, in eines der 80 sogenannten Judenhäuser zu ziehen, zu denen auch die drei Stiftsgebäude zählten.

Ab dem 25. Oktober 1941 begannen in Hamburg die Deportationen der jüdischen Mitbürger in die Ghettos und Vernichtungslager.

Von den Deportierten aus dem Mendelson-Israel-Stift hat keiner überlebt.


Die namentlich bekannten Opfer:


Dr. Julius Adam,                   

geboren am 22.8.1862 in Lissa / Posen, Arzt für Allgemeinmedizin 

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 25.10.42 angeblich an Altersschwäche gestorben

Johanna Hinda Appel, geborene Freymann

geboren am 15.01.1867 in Königsberg, verwitwet 

am 19.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, am 21.09.42 nach Treblinka deportiert und dort bei der Ankunft ermordet. 

Sara Bromberger, 

geboren am 24.05.1885 in Hamburg, Buchhalterin

am 6.12.1941 nach Riga deportiert und dort bei der Ankunft ermordet

Friederike Davidsohn, 

geboren am 18.09.1891 in Bromberg, Verkäuferin, 

Nach mehreren Aufenthalten in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg wegen Shizophrenie wurde sie 1935 entlassen und kam an den kurzen Kamp in die Obhut ihrer Mutter

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, am 23.1.1943 weiter deportiert nach Auschwitz und dort bei der Ankunft ermordet 

Margarethe Davidsohn, geborene Sachs, 

geboren am 18.11.1867 in Breslau, verwitwet, Friederikes Mutter

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 6.8.42 verstorben, 

angeblich an Lungenentzündung 

Gertrud Embden, 

geboren am 27.05.1876 in Hamburg, Fürsorgerin, 

sollte am 19.07.42 nach Theresienstadt deportiert werden, vergiftete sich am 14.07.42 durch die Einnahme von Schlaftabletten, am 15.7.42 verstorben

Katharina Embden, Gertruds Schwester

geboren am 06.12.1877 in Hamburg 

ging am 14.07.1942 gemeinsam mit ihrer Schwester in den Tod, verstarb noch am gleichen Tag

Katharina Falk, geborene Zerkowitz

geboren am 03.06.1862 in Wien, 1910 geschieden, Friseuse 

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, am 23.01.1943 dort angeblich an Altersschwäche gestorben  

Auguste Friedburg, 

geboren am 08.07.1879 in Hamburg, Fotografin, technische Assistentin

am 19.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 20.03.1943 an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben, den sie vor der Deportation erlitten hatte

Jenny Friedemann, geborene Daniel

geboren am 21.02.1868 in Berlin, verwitwet

am 19.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 6.12.1942 an einem Darmkatarrh gestorben

Mary Halberstadt, geborene Horneburg, verwitwet, 

Schwester von Clara und Anita Horneburg

geboren am 05.06.1862 in New York

am 15.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, am 30.04.1944 an Altersschwäche gestorben

Emily Heckscher, geborene Löwenthal, verwitwet, Kauffrau

geboren am 15.12.1865 in Hamburg

Selbstmord durch Gift vor der Deportation nach Riga am 6.12.1941

Käthe Heckscher, Tochter von Emily, Privatlehrerin

Selbstmordversuch durch Gift vor der Deportation nach Riga am 6.12.1941, Tags darauf gestorben

Betty Hirsch, 

geboren am 25.10.1876 in Altona, Nachhilfelehrerin

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 25.9.1942 an “Marasmus-Altersschwäche” gestorben 

Hanna Hirsch, geborene Levy

geboren am 25.12.1863 in Altona

deportiert am 19.7.1942 nach Theresienstadt, dort am 9.4.1943 gestorben, Todesursache unbekannt 

Regine Hirschfeld, geborene Kohn

geboren am 29.8.1867 in Templin, verwitwet

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 29.7.1942 verstorben, Todesursache unbekannt

Anita Garibaldi Horneburg, Antiquitätenhändlerin

geboren am 23.03.1874 in Hamburg

am 15.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, am 15.05.1944 weiter nach Auschwitz deportiert und dort bei der Ankunft ermordet

Clara Horneburg, Putzmacherin

geboren am 23.02.1871 in Hamburg

am 15.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, nahm sich dort am 26.10.1942 durch Vergiftung das Leben

Emma Israel, ledig

geboren am 11.7.1873 in Hamburg,

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 17.12.1942 gestorben, Todesursache unbekannt

Franziska Koopmann, Tochter von Jenny 

geboren am 31.10.1888 in Hamburg

am 6.12.1941 nach Riga deportiert und dort bei der Ankunft ermordet

Jenny Koopmann, geborene Levy 

geboren am 5.11.1860 in Randers, Dänemark, verwitwet

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, am 21.9.1942 weiter nach Treblinka deportiert und dort bei der Ankunft ermordet 

Martha Kurzynski, ledig

geboren am 2.8.1870 in Löbau,

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 15.5.1943 an Entkräftung gestorben

Laura Levy, ledig

geboren am 24.5.1873 in Hamburg, kaufmännische Angestellte

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, weiter deportiert am 21.9.1942 nach Treblinka und dort bei der Ankunft ermordet

Chaile Charlotte Lippstadt, geborene Engel 

geboren am 20.5.1873 in Hamburg, verwitwet

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, weiter deportiert am 

21.9.1942 nach Treblinka und dort bei der Ankunft ermordet 

Isidor Mendelsohn, Bruder von Celine Reincke

geboren am 10.2.1869 in Altona, Versicherungsmakler, verwitwet

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, weiter deportiert am 

21.9.1942 nach Treblinka und dort bei der Ankunft ermordet 

Balbine Meyer, geborene Strelitz, verwitwet

geboren am 5.6.1871 in Schublin, Posen, verwitwet

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, weiter deportiert am 

21.9.1942 nach Treblinka und dort bei der Ankunft ermordet

Helene Adele Meyer, Schwester von Ida Meyer

geboren am 5.11.1878 in Hamburg, selbstständige Kauffrau

am 6.12.1941 nach Riga deportiert und bei der Ankunft ermordet

Ida Meyer, ledig 

geboren am 5.3.1869 in Hamburg, selbstständige Kauffrau

am 6.12.1941 nach Riga deportiert und dort bei der Ankunft ermordet

Ella Rosa Nauen, geborene Goldschmidt, verwitwet

geboren am 21.12.1870 in Hamburg 

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 9.10.1942 nach einer Schenkelhalsfraktur, Darmkatarrh und Herzmuskelentartung an

“allgemeiner Schwäche Cachexia (Auszehrung) gestorben

Celine Reincke, geborene Mendelsohn, Schwester von Isidor 

Mendelsohn, verwitwet 

geboren am 12.9.1875 in Altona 

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, weiter deportiert am 15.5.1944 nach Auschwitz und dort bei der Ankunft ermordet

Friederike Rothenburg, ledig

geboren am 15.10.1869 in Hamburg, ohne Beruf

am 19.07.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 18.11.1942 angeblich an Enteritis Darmkatarrh gestorben. 

Benny Salomon, Ehemann von Elsa Salomon 

geboren am 5.1.1875 in Hamburg, selbstständiger Kaufmann

am 8.11.1941 ins Ghetto Minsk deportiert und dort zu einem unbekannten Zeitpunkt ermordet

Elsa Salomon, geborene Riess, Ehefrau von Benny Salomon

geboren am 10.9.1877 in Hamburg

am 8.11.1941 ins Ghetto Minsk deportiert und dort zu einem unbekannten Zeitpunkt ermordet 

Martha Rosa Schlesinger, geborene Schönwald, geschieden

geboren am 5.3.1873 in Kassel, Sekretärin 

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, weiter deportiert am 

21.9.1942 nach Treblinka und dort bei der Ankunft ermordet

Louis Stiefel, Ehemann von Sophie Stiefel

geboren am 29.12.1874 in Hamburg, Papiergroßhändler

am 11.7.1942 nach Auschwitz deportiert und dort bei der Ankunft ermordet

Sophie Stiefel, geborene Wulf, Ehefrau von Louis Stiefel

geboren am 24.6.1890 in Hamburg

am 11.7.1942 nach Auschwitz deportiert und dort bei der Ankunft ermordet

Louise Strelitz, ledig

geboren am 7.2.1872 in Hamburg, Frisörin

am 15.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 20.12.1942 angeblich an Bauchtyphus gestorben

Eugenie Hanna Zimmermann, geborene Isaacs, verwitwet

geboren am 27.10.1873 in Hamburg, selbstständige Kauffrau

am 19.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, dort am 16.4.1945 verstorben, Todesursache unbekannt




Die zwei neuen Steine, am 8.4.2023 verlegt 





HELGA MEYER


Hummelsbüttel selber, der Stadtteil, in dem sich das STZ befindet, hat genau einen einzigen Stolperstein aufzuweisen.

Dieser wurde zum Gedenken an Helga Meyer verlegt. 

Helga wurde am 3.10.1918 in Bremen geboren.
Wann genau ihre Eltern nach Hamburg oder Umgebung zogen, ist nicht genau bekannt, jedenfalls wohnten sie mit Helga und ihrer älteren Schwester seit 1936 im Siegstück 3 in dem Dorf Hummelsbüttel (das erst 1938 zu Hamburg kam).

Helga war mit acht Jahren schwer gestürzt, in Folge davon konnte sie nur mit Mühe gehen 

und hatte Sprachschwierigkeiten.

Lesen hatte sie allerdings in den zwei Jahren, die sie die Volksschule besuchte, gelernt.

Belegt ist, daß sie 1930 zur Behandlung im Klinikum Eppendorf war und in die sogenannte “Krüppelanstalt” Alte Eichen aufgenommen wurde, allerdings konnte sich ihr Gesundheitszustand nicht verbessern. 

Am 22.9.1941 wurde sie in die Alsterdorfer Anstalten eingewiesen.

Ihr Zustand wurde beschrieben als vollkommen hilflos, sie mußte gewaschen, angekleidet und gefüttert werden. Sie sei, so die Akte, geduldig, verträglich, dankbar und von heiterem Gemüt gewesen. 

Nach den schweren Bombenangriffen auf Hamburg bat der Anstaltsleiter, Pastor Friedrich Lensch, die beschädigte Anstalt teilweise zu evakuieren, da 750 Bewohner obdachlos geworden sein. 

So verließen Anfang August 1943 vier Transporte Alsterdorf, darunter auch ein Transport am 16.8. mit 228 Mädchen und Frauen mit Ziel Richtung Wien, darunter auch Helga Meyer. 

Helgas Mutter versuchte, durch Briefe und Pakete, auch durch Geldsendungen, Kontakt zu ihrer Tochter zu halten - es ist nicht bekannt, ob diese Post die junge Frau je erreicht hat.

Im März 1944 teilte Dr. Hans Bertha, Facharzt des Euthanasieprogramms, Helgas Eltern mit, ihre Tochter sei infolge Lähmung bettlägerig.

Im Juni erhielten die Eltern die Nachricht, Helgas Lungen seien angegriffen und ihr Gesundheitszustand habe sich verschlechtert. 

Im September erhielt Helgas Mutter die Nachricht, ihre Tochter sei am 11.9.1944 an einer rapide fortschreitenden Lungentuberkulose gestorben und ihr Leichnam sei in Wien eingeäschert worden.

Lungen-TBC war eine der häufigst angegebenen Todesursachen, um einen gewaltsamen Tod zu verschleiern.

Die Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof in Wien war berüchtigt und hatte wenig mit einer Klinik gemein - die Patienten litten unter Unterernährung, mangelnder Behandlung, Verwahrlosung oder wurden mittels gezielter Überdosierung von Medikamenten ermordet. 

Es wird von Überlebenden berichtet, daß die Patienten sich teilweise nur von Kartoffelschalen ernährt hätten.

Von den 228 aus Alsterdorf verlegten Patientinnen überlebten insgesamt 196 den Aufenthalt bis zum Kriegsende nicht. 



                                                                                      Bernd C.